Ohne Untertitel

Sinnloserweise existiert da online noch eine weitere Website, die ich bis einschließlich April 2015 mit hauptsächlich englischen, teilweise deutschen Texten befüllt habe. Ich würde sie gerne erstens dringen auch auf dieses CyberChimps-WordPress-Theme umstellen und zweitens inhaltlich auf Soziologie umpolen. Nachdem in absehbarer Zeit dafür allerdings keine Zeit sein wird, begnüge ich mich damit, die einzelnen Inhalte umzuziehen und hier zu recyclen. So auch diese kurzen Abschnitte aus einer Kurzgeschichte namens Ohne Untertitel.

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Eigentlich sollte man mit einem solchen autobiografischen Versuch ja warten, bis man ein Leben gelebt hat, in dem es genug zu erleben gab, das zu erzählen einer Autobiografie würdig wäre. So ungefähr bis 28, so alt ist nämlich meine Tante. Sie sagt: Das ist ein cooles Alter. Nein, sie sagt eigentlich: Das ist ein geniales Alter, weil die Zwei rot ist und die Acht ist grün und das spiegelt so den Widerspruch zwischen dem Jungseinkönnen und dem Endlichaltgenugsein. Sie sagt, dass man erst in so einem Alter als vollwertig erwachsen wahrgenommen wird, obwohl man es auf dem Papier ja eigentlich schon seit zehn Jahren ist.

Das mit den Zahlen und den Farben nennt sich übrigens Synästhesie. Und ich bin übrigens 14, die Eins ist weiß und die Vier ist gelb. Und falls jetzt gerade Eltern, Patentanten oder entfernte Verwandte diese Seite lesen, weil sie ein Geschenk für ihre anverwandten Teenager suchen: Ja, dieses Buch können Sie ruhigen Gewissens an Jugendliche zwischen 12 und 16 verschenken. Ich nehme darin keine Drogen, ich verherrliche keine Gewalt, stelle keine Nacktfotos auf Facebook und fröne keiner sexuellen Ausschweifungen. Ich erzähle nur ein bisschen darüber, wer ich war, wer ich bin und wer ich sein werde. Ohne Untertitel. Ohne Stimme aus dem Off. Nun gut, vielleicht wird es an manchen Stellen ein wenig philosophisch und ich werfe mit Fremdwörtern um mich, aber das ist nicht allzu wild. Statt der Untertitel findet sich am Ende des Buches dann ein entsprechendes Glossar.

Zurück also zu meinem autobiografischen Versuch. Liebes Tagebuch, will ich schreiben, aber schreibe es nicht. Denn mein Tagebuch ist eigentlich nur eine Aneinanderreihung von Situationen, die ich über virtuelle Kanäle in alle Welt verstreue. Seit Facebook und Instagram zeichnet ohnehin jeder die ganz persönlich konstruierte virtuelle Autobiografie seines Lebens, in dem noch nicht immer so viel gelebt wurde, dass man es lebens- und lesenswert nennen könnte. Also kann ich jetzt guten Gewissens auch damit anfangen und die Bausteine meiner virtuellen und realen Autobiografien – der Personen, die ich war, sein wollte, bin, sein will, werde und werden möchte – aus all diesen Kanälen einzusammeln und zu einem Ganzen zu verarbeiten, bevor sich meine Einzelteile so sehr verstreut haben, dass ich sie gar nicht mehr wiederfinde. Denn obwohl das Internet die Daten nicht vergisst, vergisst es doch die Verbindungen zwischen den Daten, die Schnittstellen, die Synapsen, die digitalen Fäden, die aus den Teilen das Ganze machen. So wie erst die Striche auf der Sternenkarte aus den funkelnden Leuchtdioden die Sternbilder machen. Die Idee gefällt mir: das virtuelle Sternzeichen.

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Passierte Tomaten. Was ist ihnen denn passiert? Das würde Monsieur L. vielleicht in seiner Semiotik-Vorlesung fragen, allerdings auf Französisch. Mais qu’est-ce qui s’est passé avec ces tomates passées ? Erstaunlich, das Wortspiel funktioniert sogar sprachübergreifend. Das hätte ich meinem kleinen 14jährigen Selbst mal sagen sollen, dass ich in doppelt so vielen Jahren über Wörtern, Phrasen, Sätzen, Kapiteln, Texten und Büchern sitzen würde und mich über Sprachspiele amüsiere. Oder dass ich über Abstracts, Excerpts, Artikeln, Dokumenten und Abhandlungen sitze, um die passenden Thesen für meine Doktorarbeit aus einem Netz aus Theorien abzuleiten und anzuwenden, sie aufzugreifen und mit Daten aus dem Feld neu zu mischen, um einen winzigkleinen Beitrag zu den Erkenntnissen über die Gesellschaft zu leisten.

Jetzt gerade amüsiert mich aber nur eine Sache. Nämlich über mein Tagebuch aus der Zeit, als ich tatsächlich 14 war. Als ich passierte Tomaten hauptsächlich als Soße auf der Pizza kannte. Als ich gerade das Internet für mich entdeckte und vom Buch zum Blog überlief, mich in Chatrooms herumtrieb und es faszinierend fand, sogar auf Englisch mit jemandem schreiben zu können, der wo auch immer auf der Welt real existiert, für mich aber nur in Pixeln und schwarzem Text auf orangefarbenem Hintergrund. Das war auch die Zeit, in der ich meine erste eigene ganz furchtbar bunte Homepage mit einem Online-Baukastensystem erstellte. Wie anders das heute ist; heute hat jeder mehrere Profile, Seiten, Galerien, Pages auf denen er sich in unterschiedlichen Facetten präsentiert und ausprobiert. Längst ist die virtuelle Identität nicht mehr auf eine Persona beschränkt. Es geistern so viele Avatare, Identitäten, Selbstbilder, Reflektionen des eigenen Selbst im Netz umher, dass man Mühe hat, sie alle wieder einzufangen und zum eigenen, echten Selbst wieder zusammenzupuzzlen.

Wobei doch auch das Ich im realen Leben im Grunde genommen nur eine Konstruktion ist: Aus all jeden Personen, die ich einst war, die ich bin und die ich noch werden möchte. Bloß dass ich hier in der Welt nicht einfach so hin- und herspringen kann zwischen diesen verschiedenen Rollen, in die zu schlüpfen online so viel einfacher ist. Ich weiß, dass ich einmal 14 war und dass ich Dinge erlebt habe, die ich niederschrieb, die mich berührten und mich zu dem Menschen machten, der ich damals war und heute bin und morgen sein werde. Doch die realen Erinnerungen daran sind verschwommen; neue Erlebnisse haben die alten überlagert, es gibt kein vollständiges Logfile dessen, was ich wann wo und wie und mit wem so trieb. Online kann ich hingegen alles zurückverfolgen bis zum ersten Post. Zumindest solange die großen Datenmaschinerien noch existieren, die kleine Partikel meiner Identität aufsaugen und mich vermengen mit Millionen von anderen Usern. Sortiert nach Vorlieben, nach Aspekten des Selbst, vermischt in einem Wirbel aus Daten, der uns alle vereint, obwohl wir doch eigentlich nichts gemeinsam haben. Ach halt – da ist doch etwas. Ein gemeinsamer Freund. Irgendwo ist irgendwer auch irgendein Freund von irgendjemandem.

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Ich habe festgestellt, dass mich letzten Endes doch etwas verbindet mit all jenen, die sich so vielfach produzieren und reproduzieren und online darstellen, was sie nie waren, nicht sind und niemals sein werden. Ich hätte es zwar nie gedacht. Doch es ist gerade dieses Spiel mit den Rollen, dieses Rollenspiel, das ich doch auch so unbewusst und natürlich praktiziere, tagein und tagaus, dass es mir ins Blut übergangen ist. Sogar so weit, dass ich unter all den Rollen, die in mir zusammenfließen und mich durchdringen, gar nicht mehr die eine Rolle finden kann, die keine gespielte, sondern eine echte Identität ist. Und das, obwohl ich 42 bin, die Vier ist gelb und die Zwei ist rot. Aber 42, das heißt genauso wenig wie: Ich bin Expertin, ich bin Vorstand im Frauenverein, ich bin Single, ich bin Hobby-Schauspielerin, ich bin Malerin, ich bin Jazzfan, ich bin Besitzerin einer großartigen Wohnung in der schönsten Stadt. Aber immerhin zeigen mir diese Artefakte im echten Leben, die mich umgeben, dass ich tatsächlich in all den Rollen bin und darin mehr bin als nur ein virtuelles Abbild dessen, was ich gerne sein würde. Ich kann meine Rollen anfassen; den Laptop im Büro, das Kostüm im Theater, den Pinsel im Atelier.

Trotzdem habe ich das Gefühl, dass all das nicht zusammenpasst, dass ich keine Einheit ergebe, dass die Summe meiner Teile nicht ein Ganzes ist – geschweige denn mehr als ein Ganzes. Ich bin nicht komplett. Ich bin schwammig, an den Rändern nicht ausdefiniert, ich franse aus, ich laufe aus wie die Aquarellfarbe über die Bleistiftkontur hinaus, wenn man zu viel Wasser verwendet. Ich habe keine klaren Grenzen. Da haben es die künstlichen Online-Identitäten weitaus einfacher, denn sie sind durch die technischen Gegebenheiten dessen beschränkt, was die jeweilige Plattform erlaubt: 140 Zeichen. Nur Datein im *.jpg-Format. Keine Sonderzeichen. Nur Klarnamen. Keine Verweise auf externe Websites. Der Administrator wird Sie niemals nach Ihrem Passwort fragen.

Mein Passwort im echten Leben kenne ich nicht, mit dem ich Zugang zu meinem Account erhalten könnte. Da ganz tief innen drin ist etwas, auf das ich nicht zugreifen kann. Bisher hat noch kein Hack der Welt geholfen, den Code zu knacken. Auch kein Hacker ist jemals so weit in mich vorgedrungen, dass er auf mein Betriebssystem hätte zugreifen können. Trotzdem fühle ich mich manchmal fremdgesteuert, wie ein gekaperter Computer, ein Bot, der zwar nach außen hin normal funktioniert, aber unabhängig von seinem Besitzer im Hintergrund Schadsoftware verteilt. Die verteile ich nämlich auch, weil ich das letzte Empathie-Update noch nicht heruntergeladen habe und meine Version des Empathieprogrammes ungefähr 28 Jahre alt ist. Ach ja, im Alphabet bin ich ein Umlaut; ohne Sonderzeichen gibt es bei mir also nicht. Irgendwann werde ich mein Bewusstsein in die Cloud hochladen und meinen Körper der Medizin zur Verfügung stellen, auf dass die Ressourcen, über die ich im Diesseits verfüge, auch nach meinem Ableben den Diesseitigen von Nutzen sein mögen.

Bild: pixabay.com

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