Unter all den Übersetzungsaufträgen, die an mich herangetragen werden oder die ich ergattere, sind mir offen gestanden die wissenschaftlichen Übersetzungen die liebsten. Erstens, weil ich die verschwurbelten und komplexen Sätze jeglicher Façon liebe (haben Sie schon einmal einen von einem Niederländer und einer Aserbaidschanerin verfassten englischen Text auf Deutsch übersetzt? Können Sie sich vorstellen, wie unterschiedlich das Englisch dieser Nichtmuttersprachler ausfällt – und wie anders es wiederum ist als das Englisch eines schwedischen Autors?). Zweitens, weil es mir Freude bereitet, ebendiese Sätze in eine deutsche Sprachmelodie zu verwandeln, die ungeachtet des Ursprungstextes auf Deutsch einheitlich und harmonisch klingt (wobei das natürlich immer ein Work in Progress ist und niemals perfekt, denn die Deadline steht immer dann an, wenn man eigentlich noch fünfmal gegenlesen und nachbessern möchte). Drittens – der wichtigste Punkt kommt stets zuletzt – weil ich dabei verdammt viel lerne.
Aktuell liegen auf meinem virtuellen Tisch viele Seiten aus meinem Lieblingsprojekt zur Übersetzung: Tempus CoMoLTE (Consortium for Modern Language Teacher Education). Ich erfahre on the go sehr viel über Linguistik und insbesondere über die kognitive Linguistik. Eine völlig neue Sichtweise auf Sprache, die sich mir dadurch eröffnet hat, ist die Rolle des Körpers für die Wahrnehmung der Welt und für die Erzeugung von Bedeutung in der Sprache. Der Körper beschränkt einerseits unsere Möglichkeiten der Welterfahrung (wir Menschen sehen üblicherweise z.B. kein UV-Licht, spüren keine magnetischen Strahlen und unser Sichtfeld umfasst nicht 360°; außerdem können wir nur das wahrnehmen, mit dem wir unmittelbaren oder vermittelten Kontakt haben). Andererseits ermöglicht der Körper aber auch den Kontakt mit der Welt, und diese Welterfahrung nimmt wiederum Einfluss darauf, wie wir Sprache verwenden und Bedeutung erzeugen. Ein einfaches Beispiel: Eine Narbe am Unterarm kann sich entweder vom Handgelenk bis zum Ellbogen erstrecken, oder vom Ellbogen bis zum Handgelenk. Entweder befindet sich eine Lampe auf dem Tisch, oder ein Tisch befindet sich unter der Lampe. Dabei handelt es sich um ganz grundlegende Annahmen und Beobachtungen aus der (kognitiven) Linguistik – die aber natürlich jemanden in Erstaunen versetzen, der (oder die) sich damit nie auseinandergesetzt hat (außer im Rahmen eines phänomenal guten Seminars zu African American English/es im Rahmen des M.A. Literarisches Übersetzen an der LMU München – Schleichwerbung durchaus beabsichtigt).
Bei all der Körperlichkeit ist es fast unvermeidbar, dass die Gedanken zwischendurch zum eigenen Körper abschweifen, der die persönliche Erfahrung der Welt steuert*. Es ist vor allem dann nicht vermeidbar, wenn der eigene Körper in der Öffentlichkeit zum Statussymbol mutiert. Nicht für alle Menschen und nicht in jedem öffentlichen Raum, aber im medialen und digitalen Diskussionsraum, der einen vorbildhaften Charakter für bestimmte Zielgruppen annimmt. In unsere Wahrnehmung gedrängte Orientierungsfiguren sind neuerdings so genannte Influencer, die auf Instagram ihre healthy habits samt Vorzeigeschlaf, Workout, Superfood und gebräuntem Beach Body zeigen. Dagegen erscheinen die Frauen- und Männer(!)zeitschriften mit Ernährungstipps und Self-Empowerment-Artikeln geradezu minimalinvasiv. In der Verlängerung von der Hochglanzwelt zurück in die analoge Welt bedeutet das, dass Menschen mit besseren Körpern auch gesellschaftlich erfolgreicher sind. Wer auf seinen Körper achtet, strahlt Leistungsfähigkeit, Ehrgeiz und Disziplin aus und ist somit von vornherein Wunschkandidat im Bewerbungsverfahren. Relevantes Hobby im Lebenslauf: Körperpflege.
Nun kann man all das ausblenden und sich eine Mauer der Ignoranz gegenüber all diesen Bildern und Konzepten aufbauen. Allerdings bezweifle ich, dass man dagegen wirklich vollends gefeit ist. Denn jede uns präsentierte Körperlichkeit ist eine Projektionsfläche, an der wir uns spiegeln, bewusst oder unbewusst. Unsere Wahrnehmung ist darauf programmiert, eben auch solche Darstellungen in unsere Welterfahrung mit einzubeziehen, die sich von dem eigenen Wahrnehmungsspektrum und dem eigenen Sein unterscheiden. Wir können gar nicht anders, als uns – mit mehr oder minder großem Erfolg – in die andere Körperlichkeit hineinzuversetzen. Wer sich für Sportereignisse begeistert, der fiebert mit den Athleten mit und nimmt den Wettkampf aus deren Augen wahr, auch wenn er (oder sie) selbst sportlich nicht aktiv ist. Das kann inspirierend sein, weil es möglicherweise dazu anregt, das Empfinden des anderen selbst fühlen zu wollen und sich das zum konkreten Ziel zu setzen. So wie Tausende Mädchen, die bei der nächsten Staffel von GnTM wie ihre Vorgängerinnen über den Laufsteg schweben und vor den Augen der Jury bestehen wollen, um selbst zu einer Projektionsfläche für die Träume der nachfolgenden Mädchenschwärme zu werden. So wie Tausende Jungs ein bandtaugliches Instrument spielen lernen, um den Stars auf den Postern über ihrem Bett nachzueifern. Diese Art der körperlichen Empathie ist Bestandteil der Programmierung unseres Wahrnehmungsapparats – kein emotionales Mitfühlen, sondern ein physisches Fühlenwollen.
Die Kehrseite dieser kognitiven Medaille ist natürlich das Hineinsteigern in Extreme; dazu gehört extremes Ablehnen der anderen Körperlichkeit ebenso wie extremes Nacheifern. Irgendwo dazwischen herrscht jedoch auch Ruhe im Auge des Sturms: Eine Position, in der das eigene Körperempfinden richtig ausbalanciert ist zwischen den selbstgemachten Vorstellungen, den fremden Vorbildern und den generellen Möglichkeiten der eigenen Körpergestaltung. Das ist kein statischer Zustand, sondern ein ständiges dynamisches Austarieren zwischen den Windwirbeln, die uns mitreißen wollen – daher auch ein lebenslanges Work in progress.
Woran aber erkennt man die Momente, in denen man mit der eigenen Körperlichkeit wirklich im Reinen ist? Ich wusste es auch nicht, bis ich mit verschiedenen Medien dazu experimentiert habe. Man sieht in Dokumentationen über Magersucht häufig, dass die (darin überwiegend weiblichen) Betroffenen das Gefühl für ihren eigenen Körper und für dessen Sichtbarkeit oder Positionierung in der Welt verloren haben. Da werden Filmaufnahmen von ihnen gemacht, um ihnen dann anhand des Filmmaterials zu zeigen, was der Spiegel ihnen nicht verrät: Dass da kein Gramm Fett ist, wo sie nur Fett sehen, sondern Haut und Knochen. Als ich in einer Phase war, in der sich mein Körper deutlich verändert hat (soll heißen: als ich ernsthaft mit dem Krafttraining begonnen habe), hatte ich gar kein Gefühl mehr dafür, wie mein Körper in der Welt im Kontext aussieht. Dass ich mit 1,85 immer größer bin als die meisten in meinem Umfeld, wusste ich. Aber wie „viel“ oder „wenig“ Substanz oder Masse ich im Verhältnis zu meiner Umwelt aufweise, konnte ich nicht mehr einschätzen. Dafür musste ich mich erst im Fernsehen in Bewegung durch die „objektive“ Kamera sehen – oder als Hobbymodell aus der Sicht der Fotografen (und Fotografinnen), vor deren Linse ich posieren durfte. Erst indem ich über andere Medien als meine eigene visuelle Wahrnehmung gesehen habe, wie mich andere sehen, konnte ich mich selbst wieder deutlich sehen, bzw. meinen Körper im Kontext.
Das wiederum löst Gefühle aus, die über die reine Körperlichkeit hinausgehen. Denn man eignet sich die von Dritten gemachten Bilder an und verwendet sie als Spiegelbild und Schablone für die Eigenwahrnehmung. Auf manchen habe ich mir gefallen, auf anderen nicht. Am wenigsten habe ich mir auf den Fotos jener Amateurfotografen gefallen, die eine bestimmte Schablone der objektifizierten Weiblichkeit über jedes Motiv legen; einen männlich konnotierten Sexiness-Filter, der nicht zu meiner Art und Auffassung von Weiblichkeit für, mit und durch meinen Körper passt. Tatsächlich war diese verdrehte Zurschaustellung einer Weiblichkeit, die nicht die meine ist, der Hauptgrund dafür, warum aus meiner roten Mähne ein schwarzer Pixie-Cut geworden ist. Dass diese Frisur meine Weiblichkeit eher ausstrahlt, konnte ich aber erst in den Bildern erkennen, die von unterschiedlichen Menschen von mir gemacht wurden – und die sich unterschiedliche Menschen von mir gemacht haben. Am besten haben mir die Bilder gefallen, auf denen ich schwarzweiß hart und grobkörnig erscheine, nicht weichgefiltert oder farbstrahlend – und von einer Fotografin geschossen.
Man merke an dieser Stelle: Auch der Blick eines anderen Menschen auf einen selbst ist eine Form der Mediatisierung. Man wird vermittels des subjektiven Eindrucks eines anderen Menschen wahrgenommen – der wiederum einem selbst nur offenbart werden kann, wenn er bildlich festgehalten wird. Wenn also Ihre Mutter das nächste Mal ein Foto von Ihnen besonders schön findet, das sie selbst für ganz furchtbar halten, dann sehen Sie, wie Ihre Mutter Ihre Schönheit sieht, die sich wiederum von der Schönheit unterscheidet, die Sie selbst für oder in sich sehen.
Schlagen wir noch einmal den Bogen zurück zur Veränderung der eigenen Körperwahrnehmung. Man kann nun auf vermeintlich objektive und statistisch „erwiesene“ Lebenspunkte Bezug nehmen, die solche Veränderungen zu systematisieren und zu typisieren suchen. Dazu gehören die attestierte verlängerte Adoleszenz der Gen-Y und / oder Millennials, die Quarter- und Midlifecrisis, das Zerbrechen von Beziehungen nach dem Erreichen bestimmter Meilensteine (das 7. Jahr, das Flüggewerden der Kinder), die Selbstneuerfindung nach einem Burnout oder Jobwechsel, die große 3 oder 4 oder 5 vor der 0, und so weiter. Solche mystifizierten Änderungsmomente sind weder eindeutig als Fiktion abzutun, noch sind sie unausweichliche Lebensereignisse, die eintreten müssen. Soziologisch könnte man argumentieren, dass sie in jedem Fall eine Daseinsberechtigung haben, um dem eigenen Handeln Sinn zu verleihen: Wenn X passiert (indem ich es aktiv herbeiführe oder mit mir geschehen lasse), dann soll es im Nachhinein betrachtet auch Sinn gemacht haben – „für jede Tür, die sich schließt, öffnet sich eine andere“.
Was hat dies aber mit der Körperwahrnehmung zu tun? In vielen diese Veränderungssituationen unterliegt auch der Körper einer Veränderung. Eine neue Frisur nach der Trennung vom Partner, ein neues Businessoutfit passend zur geänderten Berufssituation, Gewichtsverlust oder Bartwuchs als Markierungspunkte, die ein Vorher und ein Nachher bestimmen. Der Körper reflektiert das Ende und den Beginn einer gelebten Phase – ganz bewusst nicht „Lebensphase“, denn nicht immer verändert sich das gesamte Leben, manchmal nur einzelne Aspekte wie eben der Partner oder der Job. An dieser Stelle bietet sich mein eigener Körper wieder als Beispiel an. 2012 habe ich mit dem Krafttraining angefangen, seitdem abgenommen, Muskeln aufgebaut, verschiedene Sportarten ausprobiert, schwere und leichte berufliche Phasen durchgemacht, mich selbst neu erfunden, zweimal meine Garderobe fast komplett erneuert, meine Ernährung mehrfach umgestellt, ein Jahr fast schlaflos verbracht, meine Haare abgeschnitten und umgefärbt. Meine Körperwahrnehmung – wie ich meinen eigenen Körper wahrnehme, wie mein Körper von anderen wahrgenommen wird, wie mein Körper in der Welt positioniert ist und wie er die Welt erfährt – ist in den letzten fünf Jahren Achterbahn gefahren. Ich musste erst lernen, mich selbst als die andere Person völlig neu wahrzunehmen, zu der ich geworden war. Interessanterweise war tatsächlich die neue Frisur dafür ausschlaggebend – ein so kleines Detail, das ein so wichtiger Markierungspunkt in meiner eigenen Entwicklung geworden ist.
An zweiter Stelle stehen die Körpermaße und das Gewicht auf der Waage, mit denen und mit dem sich mein Körper wohl fühlt, so dass ich körperlich wie mental leistungsfähig bin, mich aus den Kleidungsstücken in meinem Schrank bedienen kann, erkenne, wann ich über die Stränge geschlagen habe (sowohl beim Abnehmen als auch beim Zunehmen) und ich weder „zu viel“ noch „zu wenig“ in der Welt bin. Das ist übrigens wirklich schwer, egal wie rational, intelligent, von Hochglanzmagazinen unbeeindruckt man auch sein mag. Im Vergleich zu meinem Gewichtstief im Jahr 2014 (66,7kg bei 1,85m und 15,8% Körperfett bei den Maßen 90-70-94) habe ich sowohl an Muskeln als auch an Fett zugenommen und liege jetzt bei einem gesunden Gewicht. Wenn ich mir die Fotos von damals ansehe, trauere ich manchmal ein bisschen, weil ich die androgynere Figur vermisse und das fast ätherische Gefühl, ausnahmsweise trotz meiner Größe nicht unübersehbar, sondern durchsichtig zu sein. Dann aber sehe ich, dass mein Kopf zu groß für meinen Körper war, dann erinnere ich mich an die Schlafprobleme und an den Verzicht auf die vermeintlich „falschen“ Lebensmittel (wohlgemerkt das Symptom einer Orthorexie; also nicht Bulimie oder Magersucht, sondern eine überaus intensive Auseinandersetzung mit Lebensmitteln und Ernährung – nicht untypisch bei Hobbysportlern und für eine Magersucht esse ich ehrlich gesagt einfach zu gerne). Jetzt wiege ich also wieder mehr, trage Größe 38 statt 36, liege bei etwa 19% Körperfett und an Wohlfühltagen bei 94-78-99 – die Maße sind für mich endgültiger Beweis dafür, dass mit meinen Körperproportionen alles in Ordnung ist und ich in Bezug auf meine Masse „genau richtig viel“ in der Welt bin. Die Erkenntnis dieser Maße, die ich aufgrund der Auseinandersetzung mit der Rolle der Körperlichkeit für die Sprache genommen habe, war tatsächlich auch der Motivator für diesen Beitrag. Natürlich geht die Achterbahnfahrt weiter und die Reise ist immer ein Weg durch das Labyrinth aus Ernährungsmythen, kalorischen Versuchungen und Kalorientabellen, Ausbalancierung des Sportpensums (qualitativ wie quantitativ), Selbstwahrnehmung und -bestätigung. Aber dabei ist nicht die Zahl auf der Waage entscheidend, sondern das eigene Inderweltsein. Nur mit dem Körper, den ich jetzt habe, kann ich auch körperlich und geistig leisten, was ich jetzt leiste. Ich war noch nie so fit wie jetzt, so sportlich vielfältig aufgestellt und interessiert, so empowered. Es ist ein geiles Gefühl, jederzeit loslaufen zu können. Jederzeit in den Sport schlüpfen zu können, der zu einer festen Rolle in meinem Lebensrepertoire geworden ist. Natürlich ist man manchmal unmotiviert und natürlich kann das Interesse am Sport jederzeit erlöschen, wenn eine neue Lebensphase beginnt oder äußere Umstände einen dazu zwingen. Aber durch den Sport habe ich den Körper bekommen, der wirklich zu mir passt und in den mein Geist wirklich passt.
Bevor ich zu drittens komme (erstens war die Frisur, zweitens der Körper, nur zur Erinnerung), muss ich noch kurz eine Lanze zur Verteidigung aller großen Frauen brechen, die mit ihrem Inderweltsein nicht ganz im Reinen sind. Ganz im Reinen bin ich nämlich auch nicht. Vor allem nicht damit, dass die Bekleidungsindustrie vorrangig für Frauen zwischen 1,60 und 1,75 schneidert, so dass mir vor allem viele Oberteile entweder unten zu kurz oder oben zu eng sind (groß zu sein heißt auch, breitere Schultern und einen längeren Oberkörper als die normalgroßen Frauen zu haben). Ich hasse es, wenn die bestellten Sachen an mir wie nach der Wäsche eingelaufen aussehen – und dass ich manchmal nur die Wahl zwischen in-die-High-Waist-Hose stecken oder nur-Artikel-mit-„Long“-im-Namen habe. Eine Nummer größer kaufen hilft fast nie, da die meisten Teile dadurch wesentlich breiter, aber unwesentlich länger werden. Zum Sport ziehe ich zwei (elastische) Tops übereinander an, damit ich das auf der Haut liegende herunterziehen kann und das darüber liegende es fixiert, so dass nichts verrutscht, wenn ich gerade Burpees oder einen Handstand mache. Als große Frau – wie natürlich auch als kleine Frau – bewegt man sich außerhalb einer Norm, die von der Bekleidungsindustrie vorgegeben ist (fairerweise sei dazu gesagt, dass es ohnehin schon für alle Frauen schwierig ist, sich im Bekleidungsdschungel zurechtzufinden, wenn eine M bei Marke A einer Größe XL bei Marke B entspricht, weil es keine einheitlichen Standards für Größenbezeichnungen gibt). Warum macht man es uns so schwer, unser Interesse für Mode vorbehaltlos auszuleben? Ja, vieles hat sich verändert und ist besser geworden. Mit 16 musste ich noch Skaterjeans für Jungs tragen und es gab gefühlt drei Paar Schuhe in Größe 42, heute kann ich die zu kurz geratene Hose einfach absichtlich als 7/8 tragen, von Long-Trends profitieren und mein Schuhschrank platzt aus allen Nähten. Aber die Standardschnittmuster sind trotzdem noch nicht auf kleine und große Frauen abgestimmt, nur auf immer gleich große und dafür unterschiedlich breite Körper. Das beeinflusst die eigene Körperwahrnehmung, ob man es nun will oder nicht, ob es nun bewusst geschieht oder unbewusst.
Nun aber zu drittens. Der drittwichtigste und letzte Aspekt für die Justierung meiner eigenen Körperwahrnehmung war das Überschreiten der 30 vor noch nicht allzu langer Zeit. Das Twenty-Something-Grundrauschen hat danach stetig abgenommen, bis es etwa ein paar Monate danach komplett verstummt war. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, irgendetwas beweisen zu müssen oder mich an irgendwelche Zwanziger-Konventionen halten zu müssen, weil mich der dreißigste Geburtstag über diese vermeintlichen Zwänge hinauskatapultiert hat. Mit 30 steht man nicht mehr im Epizentrum der medialen Dauerbeschallung, man wird von den allzu bemüht jungen und allzu nervig hippen Trends in Ruhe gelassen. An ihre Stelle treten dann zwar andere potenziell krisenerzeugende Botschaften (Single mit 30, Mama mit 30, Vereinbarkeit von Job und Familie mit 30, Karriereziele mit 30, Freundschaften mit 30, Reisen mit 30, Abenteuer mit 30…), aber diese sind einfacher auszublenden. Man wird als Frau mit 30 ein Stückweit unsichtbarer für die anderen und sichtbarer für sich selbst. Man weiß, was man schon geleistet hat und sollte im Idealfall wissen, wie die nächsten paar Jahre aussehen, also wo die Reise kurz- und mittelfristig hingeht. Man wird mit der 3 vor der 0 auch endlich als erwachsen wahrgenommen, selbst wenn man bereits mit der 2 vornedran im Kopf schon viel älter war. Das Leben ist kein Abiball mehr, auf dem in der einen Ecke Shots von nackten Bäuchen geschleckt werden, während in der anderen Ecke jemand kotzt und die Band auf der Bühne grölt. Das Leben ist eine entspannte Party unter Freunden mit gutem Gin Tonic und noch besseren Gesprächen, vielleicht mit politischen Diskussionen und einem gedankenverlorenen Jazzmusiker. Man hat immer noch genug Möglichkeiten, Abenteuer zu erleben und sich selbst zu erfinden – und man ist gleichzeitig schon einmal an einem Punkt angekommen, an dem man auf etwas zurückblicken kann; und man hat seinen eigenen Kopf, den man viel bewusster durchsetzt. Seinen eigenen Bauch, auf den man viel bewusster hört. Vielleicht wird es noch besser mit einer 4 vorne dran, aber mit der 3 ist es jetzt schon noch großartiger, als es mit der 2 war. Ein bisschen ruhiger, aber ungleich spannender, unvorhersehbarer.
Was jetzt zum Schluss noch fehlt ist der (Versuch eines) Rückbezug(s) zur Linguistik, denn was hat das eigentlich noch mit Sprache zu tun? Nun, der Körper ermöglicht und beschränkt unsere Wahrnehmung der Welt, die sich wiederum in den sprachlichen Äußerungen verrät, die wir verwenden, um die erfahrene Welt wiederum zu beschreiben. Je mehr sich der Körper entwickelt – und mit ihm die körperliche Wahrnehmung der Welt und auch die eigene Körperwahrnehmung dieses Körpers in der Welt – desto mehr entwickelt sich auch die Sprache, die wir verwenden. Das hat mit dem Alter zu tun, mit der Reife, mit der Lebenserfahrung – aber eben auch mit der eigenen Positionierung des Körpers in der Welt ungeachtet der verstrichenen Lebenszeit. Mein 30 Jahre alter Körper als Sportkörper hat eine andere Positionierung in der Welt als mein 30 Jahre alter Nichtsportkörper an genau dieser Stelle einnehmen würde. Mein Verständnis der Welt wäre anders, meine Wahrnehmung der Welt wäre anders; ebenso mein Handeln in der Welt und mein Sprechen über die Welt. Wege wären keine potenziellen Laufstrecken, Ernährung wäre nicht auf die optimale Energieverwaltung zur Maximierung der eigenen Leistungsfähigkeit ausgelegt. Andere Sachen wären wichtiger und weniger wichtig. Aber ich wäre auch immer noch 1,85 Meter groß und würde immer noch nach sprachlichen Signalen für die Wahl meiner Kleidung Ausschau halten: immer noch Schuhgröße 42, immer noch „Long“ als Trigger bei Hosen oder Oberteilen, immer noch die Körpermaße, die „mehr“ sind als bei normalgroßen Frauen.
Mir wird wieder bewusst, vor allem beim Übersetzen, was für ein mächtiges Werkzeug Sprache ist – und wie behutsam wir damit gerade im Hinblick auf die Positionierung unseres Körpers in der Welt umgehen müssen. Egal, wie groß, schwer, geschlechtlich oder alt wir sind.
* Kleiner Exkurs am Rande: indem ich sage „zum eigenen Körper“ und „die persönliche Erfahrung“ anstatt „zu meinem eigenen Körper“ und „meine persönliche Erfahrung“, erzeuge ich trotz aller Intimität eine gewisse Distanz zwischen mir und dem Geschriebenen, so dass für den Lesenden nie ganz klar wird, ob das nun autobiografisch gemeint ist oder eine allgemeine Beobachtung.
Titelbild © Cronfreak via pixabay.