Ikigai, oder: ein Venn-Diagramm für den Sinn des Lebens (Teil 1)

Alle paar Tage (und insbesondere, wenn ich eigentlich tausend andere Sachen erledigen müsste) denke über den Sinn des Lebens nach, beziehungsweise denjenigen meines Lebens. Der Sinn eines Lebens an sich lässt sich wunderbar unter Bezugnahme auf die persönliche Lieblings-Wissenschaft erklären (Biologie, Philosophie…); der persönliche Sinn entbehrt hingegen jeglichen Wissenschaftsbezugs und es ist ein Wunder, wenn man ihn findet.

Je älter ich werde, desto mehr weiß ich darüber, was nicht der Sinn meines Lebens ist. Je älter ich werde, desto mehr neue Facetten des Lebens lerne ich aber auch kennen, die potenziell sinnhaft werden könnten: Die Optionen werden nicht weniger, sondern verschieben sich einfach. Manch ein Zug ist bereits abgefahren, andere werden wohl ohne mich als Passagierin fortzuckeln; dafür bekommt der Bahnhof weitere Gleise mit neuen Zügen, für die ich Tickets haben könnte.

Insgesamt gefällt mir dieses Dahingleiten mitsamt dem Ausloten der Optionen und der Unmöglichkeiten (ich spiele gerne was-wäre-wenn oder hätte-hätte-Fahrradkette). Denn wer fragt schon „Sein oder Nichtsein?“, wenn er fragen kann „Dies sein oder das sein?“. Wobei das Sein allein in den seltensten Fällen genügt, denn es geht vielmehr um das ‚Aktive‘: das Machen, das Erreichen, das Optimieren, das Vorzeigen. „Ich denke, also bin ich“ weicht einem „Ich mache, also bin ich“. Für das Sein wird man theoretisch weder belohnt noch bestraft, erntet keine Bewunderung und keinen Neid*.

Das ‚Passive‘ in Form von Haben drängt sich da von der Seite noch ins Bild – jedoch kommt es aus meiner Sicht verstärkt auf das ‚Um-zu‘ des Habens an, also seine ‚Aktivierung‘. Was mache ich aus dem, das ich habe? Die Schrankwand ist ein totes Haben, Wissen ist ein lebendiges Haben, das Mountainbike eines, das mit Leben gefüllt werden will – sowohl mit dem Wissen als auch mit dem Rad kann ich ‚etwas machen‘. Das Laufen in der Natur ist ein Machen, das fast ohne jedes Haben funktioniert; die Reise ist ein Machen, das nur mit vorherigem Haben (‚Geld haben‘) durchführbar ist.

Vom Machen hangeln wir uns weiter zum Erreichen oder zum Optimieren. Nicht nur laufen, sondern den Marathon. Nicht nur reisen, sondern die Weltreise. Denn erst wahrhaftig Vollbrachtes – das nicht jeder einfach so machen kann – wird vorzeigbar und so zu einem Stempel im Reisepass des Lebens. Womit wir wieder bei den Zügen wären, die einfahren und abfahren. Oder bei den Optionen, die man für das eigene Leben ein- und ausschließt: Nicht jeder möchte ein Marathonläufer werden oder eine Weltreise machen.

Fassen wir bis hierhin zusammen:

Mein ‚Ich-Sein‘ wird definiert durch alles, das ich (nicht) habe, das ich (nicht) mache, das ich (nicht) erreiche/optimiere, das ich (nicht) vorzeige; und auch aus dem ‚Anders-Sein‘, also wie mein Gegenüber mein Sein sieht oder zu sehen vermeint: „Du mit deinen Fähigkeiten müsstest doch…“; „Ich an deiner Stelle würde…“; „Wann planst du eigentlich…“; „Ich dachte, du bist…“. Das Sein besteht also nicht nur aus uns unserer eigenen ‚Ich-Sein‘-Konstruktion, sondern auch aus den ‚Anders-Sein‘-Projektionen von anderen und aus dem ‚Hier-Sein‘ – dem Kontext, in den diese Varianten des Seins eingebettet sind: Mein ‚Ich-Sein‘ in einer anderen Gesellschaft(sschicht) bestünde aus ganz anderen Optionen, auch wenn ich (biologisch) dieselbe Person wäre.

Hier wie dort dürfen auch Zufall, Glück, Schicksal nicht außer Acht gelassen werden – egal, ob und in welcher Form man an das nicht Planbare glaubt; denn life is what happens when you’re making other plans. Sprich: Das Unvorhersehbare interessiert sich nicht dafür, ob man es auf dem Schirm hat, weil es eben einfach passiert, wenn es ihm gerade passt.

Das ist weder neu noch besonders originell; trotzdem war dieser gedankliche Vorbau notwendig, um uns zum eigentlichen Thema dieses Beitrags hinzuführen. Denn die Inspiration für diesen Post war ein Bild: ein Venn-Diagramm mit dem Titel „Ikigai. A Japanese concept meaning ‚a reason for being‘.“

Die japanische Sprache scheint mir viele Begriffe und Rituale für die Vorgänge im Inneren zu haben, die in der deutschen Sprache weniger ausgeprägt sind (mein zweitliebstes Beispiel neben Ikigai ist Hikikomori, der ‚gesellschaftliche Rückzug‘). Ikigai übersetzt sich zwar mit ‚Lebenssinn‘ oder ‚das, wofür es sich zu leben lohnt‘. Es ist aber kein Zustand des Seins, sondern vielmehr ein Machen: Ein langwieriger, gründlicher, bedeutsamer, persönlicher Prozess der Selbsterforschung mit individuell unterschiedlichem Ergebnis (und das in einer Gesellschaft, die das Gemeinwohl über das Wohl des Individuums stellt). Soziologisch interessant ist vor allem dieser Satz:

„Im Zusammenhang mit dem Selbstverständnis der kulturellen Identität der japanischen Gesellschaft finden in den dortigen Medien Erörterungen zu den Fragen statt, welche gesellschaftlichen Ideale als Grundlage für Ikigai dienen sollten, was als Ikigai angesehen werden kann (und was nicht) und ob man Personen bei deren Suche nach Ikigai in organisierter Weise behilflich sein sollte (oder nicht).“

In vielen Fällen leiten Religionen oder Sekten die Suche nach Ikigai an: Lebe nach den Regeln des jeweiligen Glaubens und du erreichst Ikigai – oder bist auf dem Weg zu Ikigai in einem späteren Leben. Dass Religion (oder eine Sekte) als ‚soziales System‘ hilft, um die Komplexität der Welt zu reduzieren, Handlungs- und Orientierungsmuster mitsamt Normen und Werten anzubieten, steht dabei außer Frage (wie war das mit: Religion als Opium des Volkes, Herr Marx?). Auch (Sub)Kulturen, Marken (‚Apple-Jünger‘) oder alternative Identitäten (als Krieger in einem Online-Game) können etwas sein, „für das es sich zu leben lohnt“ – wobei zu vermuten ist, dass diese alternativen Lebensweisen oder materiellen Götzen nur begrenzt sinnstiftend sind: Oft entwächst man langgehegten Hobbys, Passionen oder Obsessionen, weil wir uns im Laufe des Lebens eben ändern und entwickeln – weiter oder zurück; oder mal so – mal so.

Ich hatte eingangs erwähnt, dass es wohl ein Wunder sei, wenn man den Sinn des eigenen Lebens überhaupt findet. Denn ich mag mich täuschen, vermute aber, dass wir der Suche nach dem Sinn des Lebens nicht annähernd so viel Wichtigkeit beimessen wie es bei Ikigai den Eindruck erweckt. Das Leben funktioniert ja auch ohne Lebenssinn: warum sich also mit etwas befassen, das ohnehin nicht notwendig ist – ja sogar ein Luxus ist; und ja, ein Luxus, den sich viele Menschen nicht erlauben können. „Etwas aus dem eigenen Leben machen“ heißt in vielen Fällen einfach „überleben“. Betrachtet man die komplexer werdenden Weltverhältnisse (Globalisierung, Beschleunigung, Konflikte, Technisierung – um nur ein paar Aspekte zu nennen) ist es auch verständlich, dass nicht jeder den Sinn des Lebens such, obwohl er sich diesen Luxus erlauben könnte. In Zeiten großer Unsicherheit sind geregelte Abläufe, Gewohntes und Strukturen der Kitt, der Gesellschaften im Großen zusammenhält und der den Menschen im Kleinen auch zusammenhält. Wenn die Basis im Leben potenziell instabil ist, gilt das Prinzip: never touch a running system. Anstatt alles hinzuschmeißen und den Sinn auf einer einsamen Alm zu suchen, ist es sinnhafter, auf dem bekannten und gesicherten Fundament weiter aufzubauen und dabei zu bleiben – oder die Sinnsuche um ein paar Ebenen herunterzuskalieren: Yogalehrerin werden anstatt nach Indien auswandern.

Das hat allerdings wiederum zur Folge, dass unkonventionelle Lebensrealitäten – der Ausbruch aus den bekannten Strukturen – im besten Fall beäugt, im schlimmsten Fall bewertet und verurteilt werden. Dabei ist es immer noch ein weiter Schritt von einer unkonventionellen Lebensweise bis hin zu einem Leben in Einklang mit dem Ikigai; und nicht jede unkonventionelle Lebensweise bricht vollständig mit den etablierten Regeln (Normen, Werten) der Gesellschaft. Ich würde allerdings sagen, dass jede Lebensentscheidung weg vom Vorgegebenen zumindest einer ‚Aktivierung‘ gleichkommt, die im Unterschied zur ‚Passivität‘ desjenigen steht, der das Leben mit sich geschehen lässt, anstatt sich aktiv daran zu beteiligen. So wie auch ein schwerkranker Mensch (je nach Krankheitsbild) entscheiden kann, die Krankheit mit sich geschehen zu lassen, oder aktiv mit der Krankheit umzugehen. Doch wie gesagt: Die gesellschaftlichen Strukturen sind keine Krankheit, sondern der Kitt, der unser gesellschaftliches Gefüge zusammenhält. Somit kann auch das Verbleiben darin eine Form von Ikigai sein.

Man sollte in jedem Fall kein schlechtes Gewissen haben müssen, wenn man sich mit Ikigai befasst. Um diese Aussage festzunageln, müssen wir aber zurück zum Wikipedia-Zitat. Im Raum steht die Frage, „welche gesellschaftlichen Ideale als Grundlage für Ikigai dienen sollten“ – und ob man den Menschen bei der Suche nach Ikigai organisiert helfen sollte. Hier vermute ich, was sich in der Grafik zu Ikigai anzudeuten scheint: Die individuelle Selbstfindung ist eben doch auch den gesellschaftlichen Regeln unterworfen, da das Individuum in der japanischen Gesellschaft weniger zählt als das Gemeinwohl. Es ist also fast Pflicht der Gesellschaft gegenüber, Ikigai zu finden und damit den dem Individuum sinnhaft zugedachten Platz in der Gesellschaft einzunehmen:

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Ikigai ist kein egozentrisches Sinnieren, das sich rein auf die eigenen Bedürfnisse beschränkt – sondern auch eine Überlegung dahingehend, ‚What the world NEEDS‘. Wobei für den Soziologen nun zu hinterfragen wäre, ob mit ‚World‘ tatsächlich die gesamte Welt gemeint ist, oder ob sich der Begriff rein auf Welt im Sinne des japanischen Nationalstaats bzw. der japanischen Gesellschaft und ihre „Ideale“ bezieht – Ideale, die sie benötigt, um weiterzubestehen. In diesem Fall wäre es durchaus im Interesse der staatsverwaltenden Instanzen, die Suche nach Ikigai anzuleiten – und damit auch zu lenken.

Ich habe in letzter Zeit viele kritische Stimmen zum Schulsystem in Deutschland gehört. Eltern junger Kinder beschweren sich, dass das Lernen in der Schule nur für das Lernen gut sei (eine pervertierte Form des l’art pour l’art), dass es auch aufgrund der konstruierten Schulfächer nicht auf das Leben vorbereite und gar eine Art der Indoktrination darstelle: Die Kinder würden zu funktionierenden Mitgliedern der Gesellschaft herangezüchtet und müssten sich dem System anpassen, um in dem System überleben zu können. Um-die-Ecke-denken und eigene Kreativität würden zugunsten des Lehrplans unterdrückt. Ich kann diese Gedanken nachvollziehen – und man könnte nun einen (zugebenermaßen sehr weit gespannten) Bogen von der Schulerziehung hin zum gesteuerten Ikigai ziehen: Im System funktionieren als angeleitete Findung des Lebenssinns. Jedoch würde damit impliziert, dass jegliche Alternative als Widerstand zu verstehen wäre und dass nur ein Widerstand gegen dieses System vor der potenziellen Indoktrination schützen könnte. Ich denke aber, dass Widerstand – oder weniger drastisch: Widerspruch – auch dann erfolgen kann, wenn das System durchlaufen und verstanden wurde. Ganz im Sinne von: Erst dann, wenn ich es selbst ausprobiert habe, kann ich erkennen, ob es das Richtige für mich ist.

Dann bräuchte Ikigai als Grundlage keine „gesellschaftlichen Ideale“, sondern „persönliche Ideale“, das eigene Naturell. Damit gewichtet die Bedeutsamkeit des Individuums wieder mehr auf der Waagschale als die der Gesellschaft: Wenn jeder den individuellen Sinn seines Lebens unabhängig (nicht zwingend außerhalb!) der bestehenden Strukturen sucht und findet, ist das Risiko größer, dass die Gesellschaft zerbricht. Eine Gesellschaft verträgt nur eine geringe Anzahl Querdenker; sie braucht viele Ameisen (okay, mit Wahlrecht), die sie am Leben erhalten. Eine Gesellschaft ist kein Perpetuum mobile, das einmal angestoßen ewig weiterläuft. Sie ist ein komplexes, dynamisches System, das sich ständig verändert; und der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich eine hinreichend große Anzahl in einem entsprechenden (kulturellen, lokalen, sprachlichen…) Kontext einigen kann.

Dieser Argumentationsstrang hat sich allerdings an diesem Punkt erschöpft und über Ikigai muss noch so viel mehr gesagt werden – zuallererst, dass die oben gezeigte Grafik natürlich in keiner Weise offiziell oder repräsentativ für das Gesamtverständnis von Ikigai zählen kann. Aber sie ist ein anschauliches Diagramm, das man diskutieren kann. Das ich noch diskutieren werde – in Teil zwei dieses Beitrags.

* Im Nachhinein betrachtet ist diese Aussage nicht ganz haltbar. Viele Menschen werden dafür bestraft, dass sie einfach nur sind, man denke etwa an Mädchen in Indien. Auch kann man um das Sein durchaus beneidet werden, wenn z.B. jemand von Natur aus schön, talentiert, charakterstark ist. Inwieweit das jedoch wirklich ein Sein ist und nicht vielmehr eine gesellschaftliche Konstruktion, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden.

Titelbild via unsplash.com.

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