Eine Internetzeitreise, Teil 3

Stolze 51 Posts zeigt mir das Archiv meines tumblelogs für den Monat Juli 2007 an. Was das mit einer Zeitreise zu tun hat? Das kann in Teil 1 und in Teil 2 nachgelesen werden. Erwähnenswert sind nur wenige. Zum Beispiel, dass ich Neal Stephensons andere Werke (abgesehen von Snow Crash) entdeckte und Diamond Age las; oder dass mein letzter Paris-Trip die Sablés des prés – sésame, pavot, tournesol von Bonne Maman in mein Leben brachte. Sowohl den Autor als auch die Kekse mag ich immer noch.

Eine Einstein-Actionfigur lief mir über den Weg und die bis heute andauernde Liebesgeschichte zu den Moleskine-Notizbüchern begann. Ich postete Videos, Blogs oder Bilder von und über Moleskines, bis ich all diese Inhalte auf ein eigenes Moleskine-tumblelog auslagerte. Wobei mich die Marketingkampagne fast noch mehr begeisterte als die Büchlein und Kalender; und durch die breite Produktpalette hat Moleskine für mich heute an Charme verloren. Trotzdem fiel für mich damals die Entscheidung, dass ich kein digital artist sein wollte, sondern dem analogen Zeichnen den endgültigen Vorzug geben würde. Damit war das WACOM Graphic Tablet, das ich mir 2005 von meinem ersten Gehalt als freie Autorin für teures Geld gekauft hatte, endgültig obsolet geworden (ich habe es als Mahnmal für Fehlkäufe immer noch). Ich bin immer noch eine analoge Zeichnerin – nur das iPad Pro mit Paper53 und dem Apple Pencil hat mein Interesse am digitalen Scribblen wieder erweckt. Ich bin fasziniert.

Der Link zu einer „Anleitung zum Erfolg“ von vor neun Jahren führt zu einer 404-Seite. Sinnbild dafür, dass Erfolgskriterien dauerhaftem Wandel unterlegen sind und dass das Internet eben doch vergisst. Die Sogwirkung der Ratgeberliteratur (oder –Posts) begann jedoch auf mich einzuwirken; wobei einzig die Bücher von Tim Ferriss sich mir wirklich ins Gehirn eingebrannt haben.

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2007 war ich ungefähr 48 Stunden lang in Japan; zusammen mit einem Kollegen und mit unserem Gamer-Team für die „Ragnarok World Championship 2007“. Ein einmaliges Erlebnis, Marketingkonferenz und Cosplay-Festival inklusive. Die T-Shirts hatte ich entworfen, das Logo kam von den Spielern, das Team hieß Rock’n Roll. Zur selben Zeit häuften sich Berichte über Goldfarmer in China. Im Gaming hat sich daran nichts geändert: entweder man investiert Zeit und jagt dem Gold selbst hinterher – oder man investiert Geld und kauft sich virtuelle Güter direkt bzw. einen Goldfarmer, der einem zu Reichtum (oder Status) im Spiel verhilft.

Einzelne Wallpaper, Pixelgrafiken, Websites kreuzten den Strom meiner Aufmerksamkeit. Ich hielt sie einen Moment lang fest, verankerte sie im digitalen Flussbett des tumblelogs und ließ mich dann wieder treiben. Ein solches Fundstück: das Video Papiroflexia von pixelnitrate.com. Keines dieser Fundstücke hat eine Bedeutung, die über den unmittelbaren Moment seiner Entdeckung hinausgeht. Dieses inhaltsleer Bedeutungslose ist jedoch die Kette, auf der sich die bedeutungsvollen Ereignisse Perlen gleich aneinanderreihen. Gleichzeitig sind derartige Beiträge wohl auch immer kleine Raketen, die man in den Nachthimmel schießt. Manche explodieren zu einem prachtvollen Feuerwerk und erzeugen Resonanz (aaahs und ooohs, Likes und Reposts) – manche verhallen ungesehen oder ungehört. Viele Links führen ins Leere, aber den Naki joystick gibt es immer noch, buy.com ist allerdings zu rakuten.com geworden. Die Web Trend Map 2007 kann man ebenfalls noch abrufen.

Mein neu entdecktes Lieblingswort in diesem Monat ist Kudos („Kudos as well to William Hurt, who isn’t known for playing this sort of role either.”). In einem Post verwende ich das Wort tergiversate; ich habe es seitdem wissentlich nie wieder benutzt und musste gerade eben auch erst nachsehen, was es eigentlich bedeutet. Meine Faszination für Sprache(n) und seltsam seltene Wörter ist ungebrochen.

The Sunday Times schreibt zum ersten Mal darüber, dass potenzielle Arbeitgeber soziale Netzwerke nutzen, um mehr über Bewerber zu erfahren. Ich schreibe dazu, dass Medienkompetenz nicht ausreichend geschult wird, so dass Jugendliche sich der möglichen Konsequenzen nicht bewusst sind, die ihre Datenspuren haben können. Hat sich daran etwas geändert? Es heißt, dass heute eher die Jugendlichen die Älteren hinsichtlich der Verwendung neuer Technologien sozialisieren. Das ist auch keine Lösung. Ein weiteres Thema geistert durch die Medien: Second Life. Ich hatte zu dieser virtuellen Welt ein ganzes Heft geschrieben, der Hype ebbt langsam wieder ab, die Firmen geben ihre virtuellen Läden wieder auf. Der Untergang von Second Life wird prognostiziert. Dem Programm jedoch tut es gut, wieder in Ruhe gelassen zu werden und wieder ohne den Zwang zu existieren, innovativ und gewinnbringend sein zu müssen. Second Life ist ein Spielplatz, keine virtuelle Erweiterung der Konsumgesellschaft.

Überall schießen Communitys und Websites aus dem Boden, die User-Generated Content einfordern und zelebrieren. Es gibt Plattformen für alles und jeden: Zeitstrahle erstellen, Farbpaletten designen, Sünden beichten, (Moleskine-)Bilder posten… Ich kaufe mein erstes Notebook, ein MSI-15-Zoll-Klotz, der seinen Ruhestand bei meinen Eltern genießt und immer noch funktioniert. Trotzdem kann ich mir 2007 ein Leben ohne stationären PC nicht vorstellen, bin erst im Dezember 2015 vollends auf Laptops und iPad umgestiegen. Windows Vista nervt, Spam-Postwurfsendungen ebenso – während einer Woche Abwesenheit sind 25 in meinem Briefkasten gelandet, weil der „STOP! Keine Werbung“-Aufkleber verschwunden ist.

Erinnert sich noch jemand an „Backwards Bush“? Eine kleine digitale Uhr zählt die Stunden, bis Bush aus dem Amt scheidet. Erinnert sich noch jemand an seinen ersten Tweet? Ich entdecke Twitter und schreibe: Mein Eintrag wäre, dass ich mich gerade selbst vom Lernen abhalte, indem ich mehr oder weniger sinnvolle Web 2.0-Applikationen durchstöbere. So ganz war mir noch nicht klar, wozu Twitter gut sein soll. 2.558 Tweets später weiß ich es immer noch nicht, tweete aber trotzdem. Ich brüte über dem Thema für meine Bachelorarbeit und habe damals dasselbe Problem wie heute: Ich möchte über zu viel auf einmal schreiben.

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Dann hat sich im Juli 2007 noch etwas ereignet, das ich nicht verstanden habe. Ich poste ein Wallpaper von der Seite  fantom-xp.com – ein bedeutungsloses Fundstück –, doch der Post erhält 409 „Notes“ in Form von Reblogs, Likes oder Kommentaren, also 409-mal so viele Reaktionen wie meine sonstigen Posts im Durchschnitt erhalten. Ich weiß bis heute nicht warum. Manchmal ist man wohl einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

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