Wenn man jemandem etwas nicht erzählt, kann das viele Gründe haben. Eine kleine Auswahl: Es geht ihn* nichts an, man möchte ihn damit nicht belasten oder kennt ihn noch nicht so gut, dass man es ihm anvertrauen würde. Oder es ist ein Geheimnis, das zu hüten man jemandem geschworen hat. Oder die andere Person würde es nicht verstehen – emotional oder intellektuell gesehen.
Manchmal allerdings erzählt man Erlebtes oder Erfahrenes schlichtweg aus dem Grund nicht, weil man keine andere Meinung hören möchte. Man möchte selbst die Deutungshoheit darüber behalten, was passiert oder nicht passiert ist, was es zu bedeuten hat und was nicht. Man möchte die eigene Interpretation nicht infrage stellen, sich nicht gegen anderes Wissen wehren und nicht den Ansichten einer anderen Person Platz im eigenen Denken einräumen. Die Alltagssprache kennt dafür ganz wunderbare Adjektive; stur, eigensinnig, unbelehrbar, uneinsichtig, vielleicht auch trotzig. Es ist weniger ein nach außen gerichtetes „mit dem Kopf durch die Wand wollen“ als vielmehr ein nach innen gerichtetes „ich mal mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – oder eben die eigene Gedankenwand bauen.
Deutungshoheit ist ein Begriff, der sich hier unmittelbar an das Freie der Gedanken anschließt („Die Gedanken sind frei / wer kann sie erraten…“). Nicht nur der Gedanke an sich ist frei, sondern auch das Recht auf die hegemoniale Herrschaft über seine Auslegung. Denn da vieles „Auslegungssache“ ist, gibt es nie nur die eine Auslegung, sondern verschiedene Perspektiven. Ich als Souverän(in) über meine Gedanken herrsche über sie, doch ich beherrsche sie nur dann, wenn ich mir ihrer und ihrer Bedeutung aus meiner Sicht (egologisch) sicher sein kann. Sobald Zweifel an der Richtigkeit meiner Interpretation kommen, bin ich der Gedanken nicht mehr mächtig. Sie verselbstständigen sich, wirbeln umher und driften zum Beispiel in Richtung „nagender Zweifel“ oder „blinder Glauben“ ab.
Das lateinische „Divide et impera“ steht dafür, „eine zu besiegende oder zu beherrschende Gruppe (…) in Untergruppen mit einander widerstrebenden Interessen aufzuspalten. Dadurch soll erreicht werden, dass die Teilgruppen sich gegeneinander wenden, statt sich (…) gegen den gemeinsamen Feind zu stellen.“ Wir können es aber auch so auslegen, dass das (Mit-)Teilen der Gedanken eben dazu führt, dass sie in verschiedene, mitunter einander widerstrebende Interpretationen ihrer Bedeutung aufgeteilt werden. Die vielen kleinen Gedankenteile ergeben dann nicht mehr zwingend ein Ganzes: Das feste Gedankenfundament wird porös. In Konsequenz hieße das: Entweder ich teile meine Gedanken – und riskiere den Verlust der Alleinherrschaft über ihre Bedeutung –, oder ich beherrsche sie – und laufe Gefahr, mich in meinen eigenen Gedankengebilden fernab der Realität zu verstricken.
Wie fast immer bewegt sich das Pendel des Metronoms hier zwischen Extremen: ganz links sind die Gedanken, in die man sich dreinreden lässt und alles sofort noch einmal überdenkt, wenn jemand mit einer eigenen Deutung des Erzählten aufwartet.
Ein Beispiel dafür ist die Kaufentscheidung. Je wertvoller das zu kaufende Objekt, desto sicherer und stabiler muss das eigene Gedankenfundament sein, um einen Fehlkauf zu vermeiden. Oft teilt man seine eigenen Gedanken dazu mit zwei oder drei Bekannten – nur um am Ende fünf Meinungen oder Empfehlungen bekommen zu haben. Es ist in solchen Fällen von Vorteil, selbst schon über eine gewisse faktisch belegbare Expertise zu verfügen. Also: handfeste Informationen anstatt halbseidener Interpretationen. Das führt dazu, dass das eigene Gedankenfundament bereits stabiler ist, wenn man seine Gedanken mit den Bekannten teilt, um ihre Meinungen mit in die eigenen Erwägungen einzubeziehen. So kann man es wagen, die eigene Deutungshoheit („dieses Fahrrad ist am besten für mich geeignet“) ein Stückweit abzugeben und ist mit Fakten für den Kampf über die subjektiv als richtig empfundene Entscheidung gewappnet.
Wenn das Pendel nach ganz rechts ausschlägt, befinden wir uns bei Gedanken, die uns Scheuklappen aufsetzen. Egal, was wer auch immer wie anders sehen würde: Nichts kann uns von der eigenen Interpretation abbringen.
Ein eher trauriges Beispiel dafür sind Beziehungs(anbahnungs)situationen. Das Gegenüber sagt bzw. schreibt zu viel oder gar nicht – das allein gibt oft Anlass für lange innere Monologe über die Bedeutsamkeit der (Nicht-)Kommunikation. Kommt dann noch hinzu, dass auch das Kommunizierte (artikuliert oder gestikuliert) wiederum ausgelegt werden kann, ist der eigene Denkapparat oft heillos überfordert. Der Einfachheit halber legt das Gehirn sich dann Deutungsmuster oder -schemata zurecht, mit denen es die neuen Informationen abgleicht: Scheuklappen also. „Was nicht passt, wird passend gemacht“ – wer der festen Überzeugung ist, dass das Gegenüber ihn* liebt, der interpretiert alles auf Basis dieser Grundannahme; und vice versa. Es wäre anmaßend, generell die Empfehlung auszusprechen, solche Zweifel immer mit anderen zu teilen. Denn bei jedweder Fremdinterpretation darf nicht außer Acht gelassen werden, dass auch das Gegenüber eine eigene aktive hidden agenda befolgt, also einen eigenen Masterplan, mit dem jeder Ratschlag abgeglichen wird: Der heimliche Verehrer wird der Angebeteten tendenziell stets von anderen Männern abraten. Das Gegenüber verfügt zusätzlich noch – wie man selbst auch – über ein eigenes passives Kodierschema, nach dem die Welt sich für ihn programmiert. Wer oft verlassen wurde, tut seine Meinung auf Basis dieser Grundhaltung kund und überschreibt damit potenziell das Kodierschema der Person, die ihre Gedanken teilt, nicht aber die Grundhaltung.
Man könnte es vereinfacht ein Dilemma nennen, das auf die verschiedenen Gedankenfundamente von Optimisten, Pessimisten, Idealisten, Realisten und Opportunisten zurückführbar ist – die sich wiederum aus dem eigenen Erlebten und Erfahrenen speisen; oder auf nature versus nurture basieren. Vermutlich ist es aber ohnehin eher der Fall, dass alle fünf Typen sich mit Es, Ich und Über-Ich irgendwo in unserem Gedankenfundament tummeln. Dass kollektives Gedächtnis und Unterbewusstsein ohnehin den Teil des Gedankenfundaments „unter der Erde“ ausmachen, den wir gar nicht sehen können. Dass rationale und auch emotionale Rechtfertigungsprozesse nur Machtspiele sind, die wir mit uns selbst ausmachen („Ich habe heute hart trainiert, also darf ich die ganze Tafel Schokolade essen“) oder mit anderen ausfechten („Ich nutze seine Hilfsbereitschaft damit doch nicht aus“). Dass ein Teil von uns einfach „so gestrickt“ ist, dass bestimmte Gedanken nur noch pro forma oder als Showeinlage in uns einen Wirbel veranstalten, obwohl wir ganz genau wissen, worauf es am Ende hinausläuft.
Damit hätten wir auch wieder den Bogen zum imperare geschlossen. Herrschaft über die eigenen Gedanken setzt Kapazitäten frei, die wir für die Herrschaft über andere einsetzen können. Wer von den eigenen Gedanken jedoch beherrscht wird, ist anfälliger für die Machtübernahme durch andere. Jemandem etwas nicht mitzuteilen ist also auch eine Form der Ausübung von Macht – ungeachtet dessen, ob der nicht ausgesprochene Gedanke das Gegenüber betrifft oder nicht. Wenn ich einem neuen Liebhaber nichts von seinen 20 Vorgängern erzähle, behalte ich die Macht über sein Bild von mir, das zwischen „Jungfrau“ und „Femme Fatale“ oszillieren kann. „Wissen ist Macht“ – Gedanken sind mächtiger.
* Zugunsten der Lesbarkeit wird in diesem Beitrag meistens die männliche Form, bisweilen die weibliche Form verwendet. Angesprochen sind damit ausdrücklich jeweils alle Menschen.
Titelbild: Nathan Anderson via unsplash.com.