Am 11. Januar forderte die Süddeutsche Zeitung die Rückkehr des Gentleman, der „gelassene Distanz zum Weltirrsinn“ wahren soll – allerdings mit einem Upgrade vom analogen Schwarzweißfilm ins digitale Zeitalter, denn: „gerade im Netz sind kontrollierte Menschen gefragt“. Ich gehe damit d’accord und plädiere gleichzeitig für ein Update des Begriffs Gentleman um Gentlewoman und um Gentleperson. Schließlich tut uns allen mehr emotionale Ruhe gut; und diese entsteht „wie seit jeher durch Reisen, durch Flanieren, Studieren und waches und geneigtes Beobachten der Umwelt.“ Weg vom Weltirrsinn, hin zur Weltgewandtheit. Das ist zwar nett, aber alles Wissen über die Welt und all die gentile, höfliche Distanz zum Weltgeschehen kann auch als neue Form des Eskapismus verstanden werden.
Wichtiger als nur mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und ihr gelassen zu begegnen, ist auch gelassen mit ihr umzugehen – in der Rezeption wie in der Produktion von Nachrichten wie auch in der Interaktion mit unserer Umgebung. Eine weltgewandte Sicht auf die Welt ist nur die Vorstufe zu einem weltanverwandelten In-der-Welt-Sein – aktive Beteiligung am Weltgeschehen statt passiver Aufnahme des Weltgeschehens.
Dafür braucht es allerdings ein neues Konzept und einen neuen Begriff. Einen Begriff, der noch nicht beladen ist wie „Gelassenheit“, die jeder zu haben meint („Beruhige dich!“ – „Ich bin doch ruhig!“), wenngleich niemand sie wirklich hat, weil sie sich in den letzten Jahren abgenutzt hat. „Take it easy“ – it’s not that easy.
In den vergangenen Jahren hat es ein Begriff aus dem inhaltsleeren Nebel der Gelassenheit zu Ruhm und Erfolg gebracht: die Achtsamkeit. Weder die Gesellschaft (wer auch immer das sein mag) noch der Arbeitgeber und in vielen Fällen auch nicht das soziale Umfeld kümmern sich darum, dass es einem gut geht – also muss man auf sich selbst Acht geben, achtsam sein, Achtsamkeit lernen und leben. Dieses „nach innen“ gerichtete Streben passte zum „Cocooning“-Trend und gipfelte Ende 2016 im vielzitierten Wort „hygge“: Gemütlichkeit, Wohlgefühl, Rückbesinnung auf die einfachen Glücksbringer, ein paar Schläge weniger auf dem Metronom des schnellen, postmodernen Lebens.
Wer achtsam ist, achtet auf sich selbst. Doch ebenso wie die weltdistanzierte Gentleperson klammert sich die achtsame Ichperson aus vom Weltgeschehen: es prallt an ihr ab. Sie schwebt in anderen Sphären – und mit ihr auch ihr Weltumgang, denn sie sitzt in ihrem eigenen Elfenbeinturm. In gewissem Maße trifft das auf uns alle zu, denn wir blenden viele Dinge aus, wollen sie nicht sehen und unsere achtsame Balance nicht riskieren, die wir uns so mühsam erkämpft haben. Der Kokon hält, die Echokammer hallt, das soziale Milieu gibt Halt.
Im Jahr 2017 ist das allerdings nicht mehr genug.
Wir brauchen ein neues Konzept; eine neue Rüstung, mit der wir dieser unserer komplexen Welt nun auch wieder aktiv begegnen können. Einen neuen Grundbegriff für unseren Modus der Weltanverwandlung, der die Achtsamkeit ablösen kann. Ich schlage vor: Contenance.
Warum Contenance?
Contenance ist mehr als eine passive Einstellung. Für das lateinische Wort continentia führt der Duden die folgenden Bedeutungen: Mäßigung, Enthaltsamkeit, Selbstbeherrschung, Zurückhaltung. Leo übersetzt den französischen Begriff contenance mit Gelassenheit, Haltung, Fassung – aber auch Inhalt, Kapazität und Fassungsvermögen. Contenance beinhaltet das Verb contenir, das wiederum beinhalten bedeutet. „Die Contenance wahren“ bedeutet somit:
- Sich von der Welt nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen („Fassung“)
- Die Welt in all ihren Facetten annehmen und aufnehmen („Fassungsvermögen“)
- Unter der Prämisse der Mäßigung auf die Welt reagieren („Verfassung“ – im doppelten Sinne: etwas verfassen und dabei die angemessene Verfassung bewahren)
Contenance ist Rüstzeug in dreifacher Hinsicht: Sie stärkt uns den Rücken, damit wir dem Weltgeschehen aufrecht begegnen können. Sie stützt unseren Rumpf, damit wir vor der Welt nicht einknicken. Sie hält uns (zurück), damit wir nicht überreagieren, sondern besonnen reagieren können.
Doch ebenso wie die Gentleperson benötigt auch die Contenance ein Update in das digitale Zeitalter. Das Update heißt nicht „Mut“, denn Mut ist ein ebenso abgenutztes Wort wie Gelassenheit. Mut hat heute keine Bedeutung mehr und muss eine neue Bedeutung erst noch finden – an anderer Stelle, in einem anderen Kontext.
Nein, das Update heißt: „Wille“.
Wir müssen es wollen. Wir müssen den Kokon aufbrechen wollen, wir müssen die Echokammer zum Verstummen bringen wollen, wir müssen andere Dinge über das soziale Milieu priorisieren wollen. Wir müssen einen Weg aus der passiven Achtsamkeit in die aktive Contenance hineinfinden wollen.
„Nur“.
Diesen Beitrag habe ich zuerst auf Medium veröffentlicht. Titelbild: pixabay.com.